Ein fulminanter und berührender Abend. So herrlich alles und ans Herz gehend. Welser-Möst in Hochform, wunderbar ruhig und im rechten Moment aufregend! Die Philharmoniker können also auch Bach auf Weltklasseniveau.
Wunderbare Sänger, ein emotionaler Evangelist Julian Prégardien, ein Jesus mit runder und interessanter Stimme. Dazu vier wunderbare Solisten, von denen noch die Altistin Anna Lucia Richter heraussticht. Ein wunderbarer Schönberg-Chor, der auch die klienen Solisten stellt.
Siehe auch:
Sinkovicz
Johann Sebastian Bachs philharmonische Heimholung
Konzerthaus. Franz Welser-Möst dirigierte die „Matthäuspassion“: klug disponiert, aber auch mit Gespür und im Bewusstsein einer großen Tradition.
VON WILHELM SINKOVICZ
Wär’ nicht Wien, hätte nicht auch die allerhöchste spirituelle Erfahrung, eine Aufführung von Bachs „Matthäuspassion“, ihre Seitenblicke- taugliche Komponente. Um das also gleich vorwegzunehmen: Den Christus sang Liviu Holender. Mit wohltönendem, nobel geführtem, in allen Lagen firmem Bassbariton. Dank famoser Wortdeutlichkeit stand rasch fest, dieser junge Sänger verdankt das Engagement seinem Können. Apropos Söhne: Julian Pr´e gardien trat als Evangelist in die Fußstapfen seines Vaters. Und verlieh dem Bibeltext eloquent und engagiert, ja: enragiert höchste Dringlichkeit.
Während Holenders Höhe fundiert von der Bruststimme beherrscht ist, mixt Prégardien die Register. Und scheut in Augenblicken äußerster Anspannung nicht davor zurück, seinen Tenor bis zum drohenden Bruch zu fordern. Diesen Tonfall steigerte Kollege Martin Mitterrutzner in der „Geduld“- Arie ins Exzessive. Bei „Ich will bei meinem Jesu wachen“ hatte ihm das philharmonische Oboen–Solo fast die lyrische Show gestohlen. Wie bei den Bass-Arien Ludwig Mittelhammers, wenn er gegen Sturmböen des satt besetzten Streichorchesters anzusingen hatte, überlegte man, ob die von Dirigent Franz Welser-Möst konsequent angewandte Teilung des Ensembles in zwei Chöre zwecks Differenzierung nicht auch bei den Gesangssolisten funktioniert hätte.
Hat das nicht einst Nikolaus Harnoncourt im selben Saal ebenso gehandhabt? Übrigens damals an der Spitze des Concertgebouw- Orchesters, am Beginn jener Gratwanderung der Aneignung der „Originalklang“- Praxis durch große Symphonieorchester. Mit Welser-Möst scheinen die Wiener Philharmoniker nun am Ende dieses Pfades angekommen. Vielleicht läuten sie – geführt von einem Dirigenten, der um historische Erkenntnisse ebenso weiß wie um die große Aufführungsgeschichte – mit einer solchen Wiedergabe eine Postmoderne in Sachen Barock-Interpretation ein?
Harmonie zwischen Wort und Ton
Das spürbare Engagement der Musiker, Hand in Hand mit der gewohnt wachen, selbst im Flüstern intensiven Darbietung des Arnold Schönberg Chors und den von den Zöglingen der Staatsopernschule prägnant gesungenen Choral-Zeilen, garantiert eine packende Bach-Aufführung. Keinen Moment lang muss man hier darüber nachdenken, ob diese oder jene Spielweise musikwissenschaftlich zulässig, ob sie „original“ sei oder nicht. Die Harmonie zwischen Wort und Ton wird sinnfällig: vom stürmischen Concerto-grosso-Ton („Gebt mir meinen Jesum wieder“) bis hin zur innig auf ein klangliches Minimum reduzierten „Aus Liebe“Arie, wo sich der auf klare Linienführung bedachte Sopran Christina Landshamers mit den philharmonischen Holzbläserstimmen zur keuschen, ganz instrumental empfundenen vierstimmigen Invention verdichtet.
Die goldene Mitte markierte Anna Lucia Richter, die ihre Alt-Arien ausdrucksstark und prägnant artikulierend in wunderbarer Harmonie mit dem philharmonischen Bach-Klang modellierte: weit geatmete Bögen, aber auch feinst differenzierte Artikulation bis hin zum Tränentröpfchen-Staccato. Erbaulicher als mit einem dieserart reumütig „entzweiknirschenden Sündenherz“ hätte die Karwoche nicht anheben können.
BESETZUNG
Wiener Philharmoniker
Arnold Schoenberg Chor
Einstudierung: Erwin Ortner
Opernschule der Wiener Staatsoper, Kinderchor
Einstudierung: Johannes Mertl
Julian Prégardien, Evangelist (Tenor)
Liviu Holender, Christus (Bariton)
Christina Landshamer, Sopran
Anna Lucia Richter, Mezzosopran
Martin Mitterrutzner, Tenor
Ludwig Mittelhammer, Bariton
Franz Welser-Möst, Dirigent
PROGRAMM
Johann Sebastian Bach
Matthäuspassion BWV 244 (1727 vor)
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